TW: sexuelle Gewalt, Entführung
Die letzten Tage gab es eine gehörige Aufruhr auf den Sozialen Medien, die mit dem Verschwinden von Sarah Everard in London begann. Frauen* verschiedenster Herkunft und Nationalität habe ihre eigene Erfahrungen rund um sexuelle Gewalt und nächtliche Übergriffe bzw die Vorsichtsmaßnahmen, die sie dementgegen vornehmen, geteilt. Ich hatte bis jetzt kaum etwas auf meinem Profil geteilt und ich bin mir unsicher, ob es wirklich mein Platz in dieser Debatte ist. Ich sehe mich als Feministin und engagiere mich normalerweise immer in Debatten um FLINT*-Rechte und hatte bedenken, dass mein „Nicht-Teilen“ die falsche Botschaft sendet. Aber ich glaube wirklich nicht, dass einen Beitrag zu teilen, den 10.000 vor mir geteilt haben, wirklich etwas verändern wird. Vor allem, wenn er nur eine WhatsApp Nachricht mit dem Inhalt „Text me when you get home“ zeigt. Ganz nach dem üblichen Phänomen „Aber ich habe doch 2 Klicke getätigt, meine Anteilnahme gezeigt und somit etwas verändert“. Schlichtweg, nein! Damit wurde nur das Gewissen beruhigt.
Abgesehen davon, dass ich diese Handlung für fragwürdig halte, kommt so ein Post kaum meiner Gefühlswelt gerecht. Ich möchte so viel mehr dazu sagen. Einerseits brodelt die Wut in mir. Andererseits triggern mich diese Posts sehr. Ich fand es die letzten Tage schwer immer wieder mit dieser Angst konfrontiert zu werden. Ich bezweifle, dass es wirklich was bringt, diese Posts mit seiner Community zu teilen. Er wird zu vielen Frauen* in die Story gespielt, die sich ebenfalls davon beeinträchtigt fühlen könnten, anstatt die Männer wirklich zu erreichen. Vielleicht ist auch einfach ein zu kleiner Prozentsatz meiner Follower auf Instagram männlich. Zusätzlich habe ich schon so oft mit den Männern in meinem Freundeskreis und in meinem Leben diese Gespräche gesucht und geführt.
Aber nochmal zurück zu Sarah Everard und der Angst. Als sie abends auf dem Rückweg von einer Freundin war, ist sie verschwunden. Sie trug auffallende Kleidung, Schuhe, in denen man wegrennen kann und hatte zusätzlich mit ihrem Partner telefoniert. Und trotzdem ist ihr etwas passiert. Vor allem der Beitrag „We could all be Sarah“ hat mich nochmal auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt. Egal wie viele Sicherheitsvorkehrungen wir treffen, sie mögen zwar unsere Nerven beruhigen, aber trotzdem gibt es immer die Chance, dass etwas passiert. Seit meiner Kindheit diese Angst in meine Knochen eingebrannt. Sitzt ganz tief verankert, wird nie weggehen, verfolgt mich wie ein Schatten. Nachts eine andere sicherere Route fahren, wenig trinken, um die Kontrolle behalten zu können. Hyperaktive Sinne, schnelle Schritte. Manchmal lieber schnell mit einem Fahrrad fahren, da das Risiko, dass einen davon jemand runter wirft oder zerrt, geringer ist. Dunkle Ecken meiden, immer im Licht an den großen Straßen unterwegs sein, keine hohen Schuhe, den Standort teilen, keinen Blickkontakt. Das Herz rast, ein flaues Gefühl im Magen. Immer sicher gehen, dass alle Türen geschlossen sind. Gegenstände mitnehmen, die als Waffe zu gebrauchen sind. Nachrichten zu verschicken, dass ich sicher zuhause bin, sind keine Besonderheit, sondern reine Gewohnheit. Jedes Mal, wenn ich die Wohnungstür hinter mir schließe und ich in Sicherheit bin, fällt mir ein riesen Stein vom Herzen – heute habe ich Glück gehabt. Im Vergleich zu den Erfahrungen anderer Frauen*, bin ich bis jetzt erst in sehr wenigen brenzlichen Situationen gewesen und immer glimpflich davon gekommen. Aber jede von uns hat diese Geschichten.
Öl in das Feuer dieser schrecklichen Tatsachen hat eine Studie gegeben, die in den letzten Tagen herausgekommen ist. Sie besagt, dass 97% der Frauen im Alter von 18-24 aus UK schon einmal sexuelle Belästigungen erfahren haben. 97%. Das muss man sich erst einmal vor Augen führen. Fast jede Frau. Schon eine Einzige, die das erfahren musste ist zu viel – Aber das, 2021. Es macht mich sprachlos und wütend.
Andererseits hat es mich nochmal meine eigenen Erfahrungen, die ich in meinem Auslandsjahr in England gesammelt hatte, überdenken. In den Straßen von Plymouth habe ich mich so sicher gefühlt wie nie. Vielleicht weil alles dort so friedlich schien. Vielleicht aber auch, weil ich die Stadt einfach nicht kannte. Im Vergleich zu meiner Heimatstadt wusste ich anfangs nicht, welche Plätze man meiden sollte und an welchen Orten schreckliche Gräultaten passiert sind. Möglicherweise war mein beruhigtes Gefühl auch einfach ein Trugschluss. Denn, wenn ich an die Erfahrungen in London oder diese eine Clubnacht in Cambridge erinnere, habe ich mich alles andere als sicher gefühlt.
Ziemlich häufig wünsche ich mir, die Eigenschaften und Rechte eines Mannes zu haben – und das hat nichts mit dem Penisneid zu tun. Ich sehne mich nach einer anderen Lebensrealität. Wirkliche echte Gleichberechtigung, Wertschätzung, körperliche Unversehrtheit. Ich möchte so frei sein, das Leben in vollen Zügen genießen können. Wenn mir danach ist, mich voll betrinken können. Unbeschwert Tanzen gehen ohne einen Gedanken darüber, wie ich nach Hause komme und ob, das sicher ist. Ohne Bedenken, dass jemand meine körperliche Schwäche ausnutzen und mich überfallen, vergewaltigen oder töten könnte.
Um wirklich etwas verändern zu können, müssen wir unsere Gesellschaft, die Erziehung und unsere Werte ändern. Es ist unabdinglich über diese Gefühle und Erfahrungen mit Sexueller Belästigung oder Gewalt zu sprechen, damit vor allem Männer ihr eigenes Verhalten reflektieren und ändern können. Auch wenn sie überzeugt sind, dass von ihnen keine Gefahr ausgeht und sie keine bösen Absichten haben, sind sie uns im Zweifelsfall überlegen. Es ist umso wichtiger, mit kleinen Gesten zu vermitteln, dass sie nicht gefährlich sind. Damit wir endlich weniger in Angst leben können.